Covid-19 und Grippe: Wie können wir Wechselwirkungen zwischen Virusinfektionen vorhersagen?
Das Zusammenspiel zweier Virusarten ist komplex und schwer vorherzusagen. Mithilfe von statistischen Tests versuchen Wissenschaftler*innen die Interaktion von Viren wie Grippe und SARS-CoV-2 zu entschlüsseln. Forschende am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie haben einen solchen Test zur Untersuchung von Virus-Virus-Interaktionen genauer unter die Lupe genommen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass der statistische Test das Maß der Interaktion falsch bis sogar gegensätzlich interpretiert. Wo sich virale Krankheiten eigentlich verstärken, ergibt das Test-Design eine gegenseitige Abschwächung. Die verlässliche Voraussage von Virus-Virus-Interaktionen ist ein wichtiger Bestandteil der Pandemiebekämpfung – zum Beispiel bei der Überschneidung von COVID-19-Pandemie und Grippesaison. Die Ergebnisse wurden jetzt in der Fachzeitschrift Proceedings of the Royal Society veröffentlicht.
Es gibt keine einfache Antwort auf die Frage, was passiert, wenn unser Körper mit zwei Virusinfektionen gleichzeitig konfrontiert ist. Viren können sich auf verschiedene Weise beeinflussen: Eine Virusinfektion kann eine andere hemmen, da das Immunsystem des infizierten Körpers bereits alarmiert ist oder die Viren um Wirtszellen "konkurrieren". Virale Infektionen können sich aber auch gegenseitig verstärken, d.h. eine Virusinfektion kann zum Beispiel den Körper anfälliger für eine weitere Infektion machen. Manche Viren interagieren dagegen gar nicht. Zu wissen, wie verschiedene virale Erkrankungen zusammenspielen, kann für die Beurteilung von Epidemien entscheidend sein.
Corona trifft auf Grippesaison
Seit den ersten Tagen der Corona-Pandemie untersucht die Forschungsgruppe von Matthieu Domenech de Cellès am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin die Co-Zirkulation von SARS-CoV-2 mit anderen Viren, hauptsächlich mit Grippeviren. Die Wissenschaftler modellierten die ersten Monate der Corona-Pandemie in Europa und zeigten, dass der Rückgang der Covid-19-Fälle im Frühjahr 2020 nicht nur mit Pandemiemaßnahmen, sondern auch mit dem Ende der Grippesaison zusammenhing. So kam die Forschungsgruppe zu dem Schluss, dass Grippeviren und SARS-CoV-2 auf synergistische Weise zusammenwirken können, sich also gegenseitig verstärken. Forschende in anderen Arbeitsgruppen haben diesen Effekt auch in experimentellen Studien nachgewiesen, wenngleich weitere epidemiologische Untersuchungen erforderlich sind. Die Ergebnisse legen nahe, dass Maßnahmen gegen Influenza, wie eine Grippeimpfung, auch gegen Covid-19 helfen könnten.
Grippe und Covid-19 - mit oder gegeneinander?
Nachdem das Team um Domenech de Cellès die Studie vorveröffentlicht hatte, gab es jedoch Widerspruch von Fachkollegen. Andere Forschende schlossen nach Berechnungen mit statistischen Modellen auf eine antagonistische Interaktion zwischen SARS-CoV-2 und Grippeviren. Das gab dem Team um Domenech de Cellès den Anstoß, gängige mathematische Modelle zur Untersuchung von Virus-Virus-Interaktionen auf der Populationsebene zu überprüfen.
Studien, die eine antagonistische Interaktion beschrieben, verwendeten ein bestimmtes epidemiologisches Design, das so genannte Test-Negativ-Design. Mit diesem statistischen Test wurde das Risiko einer SARS-CoV-2-Infektion für Personen mit oder ohne Grippeerkrankung berechnet. Für den Fall, dass Grippe und Sars-CoV-2 nicht interagieren und somit unabhängig voneinander zirkulieren, wird erwartet, dass die Häufigkeit des gemeinsamen Nachweises in etwa dem Produkt der Nachweishäufigkeit der beiden Viren entspricht. Was technisch klingt, ist einfache Statistik: Für zwei unabhängige Ereignisse (wie das Würfeln mit zwei Würfeln) berechnet man die gemeinsame Wahrscheinlichkeit beider Ereignisse durch Multiplikation der Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Ereignisse.
"Irreführende Statistik"
"Obwohl diese Rechnung intuitiv erscheint, wussten wir aus früheren Studien, dass solche einfachen Statistiken irreführend für das tatsächliche Maß an Interaktion sein können", erklärt Matthieu Domenech de Cellès in einem Blogbeitrag zu seiner jüngsten Veröffentlichung. Um das epidemiologische Design zu testen, erstellte das Team um Domenech de Cellès eine Simulationsstudie – ein mathematisches Modell, mit dem sie die Co-Zirkulation von zwei Atemwegsviren, die saisonale Epidemien verursachen, simulieren konnten. Und dies mit erstaunlichen Ergebnissen: Die Studien, die auf dem Test-Negativ-Design basierten, unterschätzten systematisch die Stärke der Interaktion und ordneten sogar Interaktionen falsch ein. Auf diese Weise konnten antagonistische Interaktionen zwischen Viren fälschlicherweise als verstärkend angesehen werden und umgekehrt. Atemwegsviren mit einer hohen Reproduktionszahl und einer kurzen Infektionsdauer lassen sich anscheinend mit dem Test-Negativ-Design nicht fassen. So kommt Domenech de Cellès zu dem Schluss: "Die komplexe Dynamik von Atemwegsviren macht die Interpretation von scheinbar intuitiven Interaktionen schwierig, wenn nicht gar unmöglich". Andere statistische oder mathematische Modelle sollten und müssen zusätzlich herangezogen werden, denn der Corona-Virus zirkuliert nicht isoliert, sondern innerhalb anderer Systeme unterschiedlicher Mikroorganismen.