Wie berechnet man Impfstoff-Auswirkung?

Forschende entwickeln mathematisches Modell, um die Auswirkung von Impfungen auf Bevölkerungen besser abzuschätzen.

7. Juli 2023

Forschende am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie haben eine neue Methode entwickelt, um die Auswirkungen von Impfprogrammen abzuschätzen. Mithilfe statistischer Modelle erstellte das Team um Forschungsgruppenleiter Matthieu Domenech de Cellès kontrafaktische Ergebnisse („was wäre ohne die Einführung eines Impfstoffs geschehen?“), verglich sie mit der tatsächlichen Situation nach der Einführung des Impfstoffs und modellierte so die geschätzten Auswirkungen einer Pneumokokken-Impfung im Kindesalter. Das Team testete verschiedene Modelle und stellte fest, dass ihr Ansatz mithilfe maschinellen Lernens im Vergleich zu anderen Methoden von Vorteil war. Diese Methode könnte auch auf andere Impfstoffe und Krankheiten angewandt werden und die Bewertung groß angelegter Impfkampagnen erleichtern. Die Ergebnisse sind jetzt im American Journal of Epidemiology veröffentlicht worden

Die direkten Auswirkungen eines Impfstoffes lassen sich oft nur schwer ermitteln. Dazu muss man sie von all den anderen Faktoren trennen, die das Auftreten von Krankheiten beeinflussen können. Hygienemaßnahmen, wie die Maskenpflicht während der COVID-19 Pandemie oder klimatische Veränderungen, wie weniger strenge Winter, können die Inzidenz von Infektionskrankheiten beeinflussen. Um den Effekt eines einzelnen Faktors zu analysieren, benötigen Forschende sogenannte kontrafaktische Ergebnisse. Kontrafaktisch meint das Gegenteil der eigentlichen Situation, also die Frage, was ohne die Einführung eines Impfstoffes geschehen wäre.

In der medizinischen Forschung kann diese Frage mit Hilfe von Kontrollgruppen beantwortet werden – in der Regel durch Patient*innen, die eine bestimmte Behandlung nicht erhalten. Aber bei groß angelegten Impfprogrammen, die die ganze Bevölkerung betreffen, kann eine solche Kontrolle nicht erfolgen. Ist ein Impfstoff in klinischen Studien als sicher getestet, kann man ihn nicht bestimmten Menschen vorenthalten.

An diesem Punkt setzt Matthieu Domenech de Cellès – Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie – mit seiner Forschung an. Um die Wirksamkeit von Impfstoffen zu untersuchen, ohne auf "echte" Kontrollgruppen angewiesen zu sein, simuliert sein Team mithilfe statistischer Modelle kontrafaktische Ergebnisse. Um diese "alternativen Realitäten" zu erschaffen, in denen kein Impfstoff eingeführt wurde, gibt es verschiedene Modellierungsansätze.

In ihrem jüngsten Forschungsprojekt verglich das Team diese Methoden auf der Grundlage von Daten über einen Impfstoff gegen Pneumokokken, eine der häufigsten Ursachen für Lungenentzündungen. Neben drei etablierten, häufig verwendeten Methoden testeten die Forschenden ein viertes Modell, die so genannte LASSO-Regression, die bisher nicht für die Erstellung von synthetischen Kontrollen verwendet worden war.

"Eine der einfachsten und am häufigsten verwendeten Methoden zur Erstellung eines kontrafaktischen Ergebnisses ist die sogenannte unterbrochene Zeitreihe. Bei diesem Modell geht man einfach davon aus, dass sich ein bekannter Trend fortsetzt, aber allzu oft spiegelt dies die Realität nicht sehr gut wider. Die Zeitreihe hilft daher nicht, die Auswirkungen von Impfstoffen zu untersuchen", erklärt Anabelle Wong, Doktorandin in der Forschungsgruppe von Domenech de Cellès und Erstautorin der Studie, "Alternative Modelle liefern ein realistischeres Bild, indem sie eine so genannte synthetische Kontrolle schaffen".

Um diese synthetische Kontrolle zu erstellen, verwendeten die Forschenden Krankenhausdaten aus der Zeit vor und nach der Einführung des Pneumokokken-Impfstoffs. Der Datensatz enthielt Krankenhausaufenthalte für verschiedene Krankheiten und ermöglichte es, bevölkerungsweite Trends zu erfassen: Wenn sich eine gesundheitspolitische Maßnahme oder ein Klimawandel auf diese Krankheiten auswirkte, würde sich dies in den Hospitalisierungsraten widerspiegeln.

Durch den Einsatz des maschinellen Lernmodells LASSO-Regression konnte das Team von Domenech de Cellès die Krankheiten identifizieren, die hinter den Krankenhauseinweisungen standen und die den Trends am nächsten kamen, die bei den Krankenhauseinweisungen wegen Lungenentzündung auftraten. Selbst nachdem Pneumokokkeninfektionen durch den Impfstoff reduziert wurden, sind diese Krankheiten selbst nicht von dem Impfstoff betroffen, so dass die Forscher die kontrafaktischen Fallzahlen von Lungenentzündungen anhand der Daten schätzen konnten.

Um die Gültigkeit ihrer Schätzung zu bestätigen, simulierten die Forschenden anhand von realen Daten über Krankenhausaufenthalte aufgrund von Lungenentzündung völlig neue Datensätze, sodass sie Szenarien erstellen konnten, in denen die Auswirkungen des Impfstoffs gegeben sind. Anhand dieser Szenarien konnten die Forschenden ihr Modell verifizieren und seine Genauigkeit mit anderen Ansätzen vergleichen. Während einige Modelle, die ebenfalls auf synthetischen Kontrollen beruhen, gut abschnitten, lieferten die unterbrochenen Zeitreihen ungenaue oder sogar verzerrte Ergebnisse.

Laut Wong sei dies besonders wichtig, weil die Modellierung mithilfe unterbrochener Zeitreihen in der Epidemiologie immer noch weit verbreitet ist, was oft an ihrer einfachen Handhabung liegt. "Unsere Arbeit zeigt jedoch die Leistungsfähigkeit der LASSO-Regression im Vergleich und unterstreicht, wie wichtig es ist, bei der Auswahl einer Methode mehr als nur die eigene Intuition zu berücksichtigen", betont Wong.

Obwohl die Forschenden ihr Modell an Pneumokokken-Impfstoffdaten getestet haben, lässt es sich leicht für andere Impfstoffe und Krankheiten anpassen. Der von Domenech de Cellès vorgeschlagene LASSO-Ansatz ist einfach anzuwenden, sodass zum Beispiel auch Mitarbeitende in Gesundheitsministerien ihn zur Verbesserung ihrer Impfprogramme nutzen könnten. Mit dieser Methode könnten teure langfristige und groß angelegte Impfprogramme in Zukunft effektiver gesteuert werden.

 

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