Wie die kolumbianischen Windpockensaisons entstehen

Forschende entschlüsseln die Saisonalität der kolumbianischen Windpockenerkrankungen mithilfe von mathematischen Modellen

26. Oktober 2023

Windpocken gibt es überall auf der Welt. Doch die Jahreszeit, in der sich Menschen vermehrt anstecken, ist von Region zu Region unterschiedlich. Die Forschungsgruppe von Matthieu Domenech de Cellès hat jetzt die Saisonalität von Windpocken-Erkrankungen in Kolumbien entschlüsselt. Unterschiede in der Luftfeuchtigkeit bewirken, dass die Krankheit im Norden des Landes vor allem zu Beginn des Jahres auftritt, während der Süden besonders zum Jahresende getroffen wird. Zu diesem Ergebnis kamen die Forschenden mithilfe eines mathematischen Modells, das sich möglicherweise auf andere Länder Mittelamerikas übertragen lässt. Das Modell kann zur Entwicklung von Impfprogrammen beitragen, für die der saisonale Verlauf von Windpocken ein wichtiger Faktor ist. Die Studie wurde im Juli in der Fachzeitschrift Journal for Infectious Diseases veröffentlicht.

Viele Krankheiten treten saisonal auf – oft gekoppelt an Jahreszeiten. An Windpocken erkranken in Deutschland beispielsweise die meisten Menschen zum Winterende. Das liegt zum einen an den jahreszeitlichen Klimaveränderungen und zum anderen an den veränderten Kontaktraten der empfänglichen Personen, wie zum Beispiel Schulkinder.

In den Tropen ist es dagegen komplizierter. Dort gibt es keine Jahreszeiten wie in den gemäßigten Breiten. Dennoch verlaufen viele Krankheiten ebenfalls saisonal, treten also nicht gleichmäßig häufig über das ganze Jahr auf. Diese Saisonalität erschien Forschenden bislang weniger eindeutig und wurde in erster Linie durch Veränderungen in der Kontaktrate empfänglicher Personen erklärt, zum Beispiel wenn zu Beginn des Schuljahres viele Kinder auf engem Raum zusammenkommen und sich gegenseitig anstecken. Aufgrund fehlender epidemiologischer Daten und der komplexen klimatischen Verhältnisse in tropischen Ländern wurden diese Zusammenhänge jedoch nicht ausreichend untersucht und andere Faktoren wie Klimaveränderungen bislang nicht berücksichtigt.

Die Arbeitsgruppe von Matthieu Domenech de Cellès am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie hat nun die Mechanismen hinter der Saisonalität der Windpocken in tropischen Ländern entschlüsselt. Da die Windpocken-Inzidenz in diesen Ländern oft nur landesweit erhoben werden, konzentrierte sich das Team in seiner Forschung auf ein Land: Kolumbien. Hier werden die wöchentlichen Windpockenfälle seit Jahren auf kommunaler Ebene erfasst und stehen Forschenden zur Verfügung. Da sich Kolumbien über verschiedene Breitengrade rund um den Äquator erstreckt, war es außerdem möglich, Klimavariablen zu ermitteln, die sich auf die Übertragung von Windpocken auswirken könnten.

Windpocken, auch Varizellen genannt, sind eine sehr ansteckende virale Infektionskrankheit, die meist durch Tröpfcheninfektion übertragen wird. Die Krankheit tritt vor allem bei Kleinkindern auf und verläuft in der Regel harmlos mit leichtem Fieber, Schnupfen und typischen roten Bläschen auf der Haut. Dennoch treten weltweit bei mehr als 4 Millionen Fällen pro Jahr schwere Komplikationen auf. Bei Schwangeren etwa kann eine Infektion zu Fehlbildungen des Embryos führen. Der beste Schutz vor Windpocken ist eine Impfung und die Isolation der Infizierten, weswegen in Deutschland Kinder mit Windpocken Kita und Schule nicht besuchen dürfen.

Mit deskriptiven Modellen die richtigen Muster sehen

Zunächst stellten die Forschenden Datensätze zur Windpocken-Inzidenz in den Jahren 2011 bis 2014 von 25 kolumbianischen Gemeinden zusammen. An dieser Stelle begann die eigentliche Arbeit für die Forschungsgruppe: „Menschen sind sehr gut darin Muster zu erkennen – so gut, dass sie manchmal auch dort Muster zu erkennen glauben, wo gar keine sind“, erklärt die Erstautorin der Studie, Laura Barrero-Guevara. „Darum nutzen wir in unserer Forschungsgruppe sogenannte deskriptive Modelle, um Muster – sofern sie vorhanden sind – aus Datensätzen zu extrahieren“.

Um die Daten aussagekräftig miteinander vergleichen zu können, erstellten die Forschenden ein Modell der Windpocken-Inzidenz. Hierbei stellten sie den Jahresverlauf der Inzidenzen mit dem Breitengrad der jeweiligen Gemeinde in einen Zusammenhang. Anders ausgedrückt: Sie modellierten den Trend der Inzidenz als Funktion von Breitengrad und Woche. Mit deutlichem Ergebnis: Zwar traten die Windpockenerkrankungen in ganz Kolumbien immer in zwei Wellen auf, jeweils im April und Oktober, die Höhepunkte dieser Wellen waren aber regional unterschiedlich ausgeprägt. In nördlichen Gemeinden, wie zum Beispiel Cúcuta, war die erste Welle stets höher als die zweite, während es in südlichen Kommunen, wie der Hauptstadt Bogotá, genau andersherum war – es zeigte sich also tatsächlich ein Muster.

Klima oder soziale Faktoren – was verursacht die Windpockensaison?

Das überraschte auch Barrero-Guevara: „Wir hatten erwartet, dass die Windpocken-Inzidenz in ganz Kolumbien ungefähr dem gleichen saisonalen Rhythmus folgt. Aber hier sahen wir einen klaren regionalen Trend entlang einer Nord-Süd-Achse.“ Um zu untersuchen, wie dieser Trend zustande kommt, untersuchten die Forschenden verschiedene Faktoren, die dem gleichen regionalen Muster folgen. In Frage kamen Klimaeinflüsse und sozio-demografische Faktoren: Waren die nördlichen Gemeinden möglicherweise dichter besiedelt oder gab es hier andere Migrationsströme als im Süden?

Ein eindeutiger Zusammenhang mit dem Auftreten von Windpocken konnte jedoch nur für das Klima, insbesondere die Luftfeuchtigkeit, nachgewiesen werden. Die Luftfeuchtigkeit ist in Kolumbien, das sich über fast 16 Breitengrade erstreckt, sehr unterschiedlich. Je nach Region gibt es verschiedene Regen- und Trockenzeiten. Diese unterschiedlichen Jahreszeiten folgen dem gleichen regionalen Trend wie die Windpockenhäufigkeit – entlang einer Nord-Süd-Achse. War es in einer Region zu einer bestimmten Zeit trockener, traten auch mehr Windpockenfälle auf.

Ein Modell der Windpockenübertragung

Um herauszufinden, ob die Luftfeuchtigkeit in einer Region die saisonale Häufigkeit von Windpocken vorhersagen kann, entwickelten die Forschenden ein weiteres mathematisches Modell, das sie mit den vorhandenen Daten überprüften. Dazu teilten sie eine Modellpopulation in vier Gruppen ein: für Windpocken empfänglich, Windpocken ausgesetzt (aber ohne Symptome), infiziert und schließlich genesen. Das Modell beschreibt, wie die Menschen im Laufe der Zeit von einer Gruppe in die andere wechseln, also von der Infektion bis zur Genesung.

Der Schlüsselfaktor zur Bestimmung der täglichen Inzidenz von Windpocken ist die Übertragungsrate, das heißt, wie viele Menschen sich täglich mit Windpocken infizieren oder, um es mit den Worten des Modells auszudrücken, wie viele Menschen von der anfälligen Gruppe in die exponierte Gruppe wechseln. Mit Hilfe ihres Modells konnten die Forschenden den Einfluss verschiedener Faktoren auf die Übertragungsrate testen und so überprüfen, welche Faktoren für eine korrekte Modellierung der Windpockeninzidenz verwendet werden können.

Es war bereits bekannt, dass die Schulferien einen Einfluss auf die Übertragung haben, da Kinder in dieser Zeit weniger Kontakt untereinander haben und nicht dicht gedrängt im Klassenzimmer sitzen. Die Frage war nun, ob auch die Luftfeuchtigkeit einen Einfluss auf die Übertragung hat. Dazu „fütterten“ die Forschenden ihr Modell mit verschiedenen Szenarien: Zum einen mit einer reduzierten Übertragung nur während der Schulferien, zum anderen mit einer reduzierten Übertragung während der Schulferien und bei erhöhter Luftfeuchtigkeit.

Reduzierten die Forschenden in ihrem Modell den Kontakt während der Schulferien, ergab dies zwei Wellen von Windpocken-Erkrankungen im April und Oktober, was ebenso bei den kolumbianischen Gemeinden zu beobachten war. Im Gegensatz zu den echten Daten, waren die Wellen im Modell aber gleich stark ausgeprägt. Erst wenn die jahreszeitlich bedingte Veränderung der Luftfeuchtigkeit in das Modell einbezogen wurde, ergab sich ein ähnliches Bild wie bei den beobachteten Inzidenzen: Unterschiede in den Spitzen der beiden Krankheitswellen. Das deutet auf einen Rückgang der Übertragung in den feuchteren Jahreszeiten hin.

Windpockenfälle in Lateinamerika voraussagen

Um zu prüfen, ob das Modell auch in einem anderen Kontext funktioniert, testeten die Forschenden ihr Modell mit Daten aus Mexiko. Auch hier speisten sie die lokalen Schulferien aller Hauptstädte der mexikanischen Departements sowie die jeweilige saisonale Luftfeuchtigkeit ein. Mit Erfolg: Ihr Modell konnte mit hoher Genauigkeit den Verlauf der erfassten Windpocken-Fälle voraussagen.

Die Erfassung von Windpocken-Fällen findet jedoch längst nicht in allen mittel- und südamerikanischen Ländern so detailliert statt wie in Kolumbien und Mexiko. Hier zeigt sich der Vorteil des mathematischen Modells der Forschungsgruppe. „Nachdem unser Modell die Tests erfolgreich bestanden hatte, konnten wir nun Voraussagen für die Saisonalität von Windpocken in Ländern wie Guatemala, Panama, Costa Rica und Nicaragua treffen“, erklärt Barrero-Guevara, „allerdings müssen diese Ergebnisse noch durch reale Daten bestätigt werden“.

Bei der Planung von Impfkampagnen gegen Windpocken könnten die Ergebnisse in Zukunft nützlich sein. Denn gerade bei saisonalen Krankheiten kommt es bei der Impfung auf das richtige Timing vor der Krankheitssaison an.

 

 

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